In der Welt jeder Leserin und jedes Lesers gibt es ein wohlbekanntes Gefühl: Es ist der Moment, wenn wir auf jemanden treffen, die oder der ein Buch, das wir bereits gelesen haben, gerade zum ersten Mal entdeckt. Ein Buch, das für uns zu einem Lieblingsbuch geworden ist, wird nun für jemanden zu einem noch unerforschten literarischen Abenteuer. Dieses Gefühl ist eine süsse Qual, eine Mischung aus dem Glück, ein literarisches Juwel gefunden zu haben, und der Sehnsucht danach, es noch einmal zum ersten Mal erleben zu können.
«Zweckfreie Kuchenanwendungen»
«Zweckfreie Kuchenanwendungen» ist ein gutes Beispiel für dieses Gefühl. Der erste Roman der Autorin Yeoh Jo-Ann ist ein einfühlsames Porträt zweier Menschen auf der Suche. Sie suchen nach dem Mut, die Komfortzone zu verlassen und ihr Leben zu leben. Sukhins geordnetes Leben als Englischlehrer gerät ins Wanken, als er seine alte Liebe Jinn, jetzt obdachlos, in Chinatown wiedertrifft. Zwischen Lesen, Elternbesuchen und Unterrichten werden ihre Treffen zu einem unerwarteten Wendepunkt.
Gleichzeitig ist das Buch eine Beschreibung Singapurs, wie es leibt und lebt, schmeckt und riecht. «Zweckfreie Kuchenanwendungen» wirft einen sensiblen Blick auf die Schattenseiten der Leistungsgesellschaft, aber es gewährt auch ein Blick ins Herz von Singapur!
«Solange wir schwimmen»
«Solange wir schwimmen» von Julie Otsuka ist ein bewegender Roman über Demenz, der die Geschichte von Alice, eine Hobbyschwimmerin, erzählt. Ihr Gedächtnis schwindet langsam. Die Verknüpfung des Verschwindens mit dem Schwimmen im örtlichen Pool verleiht dem Buch eine einzigartige Note. Otsuka, selbst von Demenz in der Familie betroffen, nutzt einen geschickten Erzählstil, der die Vielfalt der Charaktere einfängt. Der metaphorische Riss im Schwimmbad spiegelt Alices eigene Kämpfe wider. Der Roman, in zwei Hälften geteilt, fesselt die Lesenden zunächst im magischen Schwimmbad, um dann mit Alices Tochter als Erzählerin in die dunkleren Aspekte des Lebens abzutauchen. Otsukas feines Gespür für Details kommt in der bildhaften Sprache zum Ausdruck. Ein herausragender Roman, der die Herausforderungen der Demenz und den Abschied einer Tochter von ihrer Mutter einfühlsam thematisiert.
«Rezitativ»
Toni Morrisons Werk «Rezitativ» aus dem Jahr 1983 ist eine fesselnde Wiederentdeckung und Neuübersetzung: Zwei Mädchen, Twyla und Roberta, schliessen im Kinderheim Freundschaft. Ihre Geschichte wirft von Beginn an die Frage bei Lesenden auf, wer von beiden weiss ist, wer schwarz? Diese erzählerische Raffinesse zieht sich bis zum Ende durch und zeigt, wie absurd Vorurteile aufgrund der Hautfarbe sind. Die Literatur-Nobelpreisträgerin erkundet literarisch einmal mehr die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit. Diese kurze Geschichte, von Tanja Handels brillant übersetzt, ist ein gelungenes Experiment, das die Aktualität und Tiefe von Morrisons Schreiben unterstreicht.
Diese Bücher wecken bei denen, die sie bereits kennen, dieses besondere Gefühl: Sie haben uns selbst fasziniert und harren nun darauf, andere mit ihrer Magie zu begeistern.
Yeoh Jo-Ann: « Zweckfreie Kuchenanwendungen ». 320 Seiten. 2022.
Julie Otsuka: «Solange wir schwimmen». 160 Seiten. 2023.
Toni Morrison: «Rezitativ». 96 Seiten. 2023.
© Lydia Zimmer. Aus: Kulturelemente 2024.