Die Welt literarisch entdecken: Die Vorteile des Reisens im Kopf und auf dem Sofa

Die Möglichkeit, neue Orte zu erkunden, fremde Kulturen kennenzulernen und unvergessliche Erfahrungen zu sammeln, ist für viele Menschen eine Quelle der Inspiration und des Wachstums. Doch im Alltag kann es schwierig sein, so zu reisen, wie man möchte. Hier kommt jedoch eine faszinierende Alternative ins Spiel: das literarische Reisen im Kopf und auf dem Sofa.

Dass Lesende ohne physisches Reisen die Welt erkunden, mag zunächst paradox erscheinen, aber diese Form der geistigen Fortbewegung ist keineswegs weniger lohnend. Tatsächlich bietet das literarische Reisen eine Vielzahl von Vorteilen, die oft übersehen werden: Zunächst einmal eröffnet es uns die Möglichkeit, über geografische und kulturelle Grenzen hinweg zu reisen, ohne unser eigenes Zuhause zu verlassen. Während physisches Reisen oft mit hohen Kosten, zeitaufwendigen Planungen und logistischen Herausforderungen verbunden ist, kann das Reisen im Kopf und auf dem Sofa praktisch an jedem Ort und zu jeder Zeit durchgeführt werden. Darüber hinaus ermöglicht es eine intensive und persönliche Erforschung verschiedener Länder und Lebensweisen. Während man durch die Seiten eines Buches blättert, hat man die Gelegenheit, sich in die Gedanken und Gefühle der Charaktere hineinzuversetzen und die Welt aus ihren Perspektiven zu betrachten. Diese empathische Verbindung kann zu einem tiefen Verständnis und zu einer grossen Wertschätzung für die Vielfalt unserer Welt führen.

Für die nächste literarische Reise empfehle ich diese drei vielseitigen Bücher, da sie uns die verschiedensten Teile der Welt entdecken lassen:

«Auf dem Nullmeridian»

«Auf dem Nullmeridian» ist ein entlarvender, packender Roman über die Entrechteten unserer Zeit, deren Schicksal der ägyptische Autor Shady Lewis mit diesem unvergesslichen Werk Gehör verschafft. Dieser aufsehenerregende Roman erzählt auf ebenso poetische wie eindrucksvolle Weise davon, was es heisst, weder ankommen noch zurückkehren zu können: Ein Ägypter lebt als Immigrant in London. Er arbeitet in der Wohnraumbehörde eines Bezirks, der für seinen hohen Anteil an Einwanderern bekannt ist. Aber anstatt Menschen eine Bleibe vermitteln zu können, verzweifelt der Protagonist an der Bürokratie. Der Anruf eines Freundes verspricht seinem Leben einen neuen Sinn zu geben.

«Die Mutter»

Die zweite literarische Reise führt uns nach Bogotá: Im Roman «Die Mutter» erzählt die kolumbianische Autorin Melba Escobar die Geschichte einer mutigen Frau, die sich den Gespenstern der Vergangenheit und den Widrigkeiten des Schicksals entgegenstellt. In einem Einkaufszentrum in Bogotá explodiert ein Sprengsatz, und Cecilias Sohn, der Soziologiestudent Pedro, verschwindet. Kurz vorher muss er sich am Tatort aufgehalten haben. In den Stunden, die dem mutmasslichen Anschlag folgen, sieht sich Cecilia mit ihrer Vergangenheit konfrontiert: mit ihrer grossen Liebe, Pedros Vater, seinem gewaltsamen Tod und der quälenden Frage, ob es möglich ist, sich politisch «herauszuhalten» in einem von inneren Kämpfen zerrissenen Land.

«Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen»

Zuletzt lasen wir uns von der Literatur nach Japan entführen: Verzerrte Erinnerungen, Verletzungen, Misstrauen und dunkle Geheimnisse – die Japanerin Riku Onda zeigt in ihrem neuen Roman «Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen», wie unterschiedlich Wahrnehmung sein kann und dass es somit nicht immer nur eine einzige Wahrheit gibt.

Aki und Hiro verbringen ihre letzte Nacht zusammen in ihrer gemeinsamen Wohnung in Tokio, bevor sie endgültig getrennte Wege gehen. Ihre Beziehung zerbrach nach einer Bergwanderung, bei der ihr Bergführer auf mysteriöse Weise ums Leben kam. Mit nur ihren Erinnerungen als Trost halten sie sich nun gegenseitig für den Mord verantwortlich und wollen noch in dieser Nacht die Wahrheit über das Geschehene auf dem Berg herausfinden. Was ist dort wirklich passiert?

Alle drei Bücher zeigen: Indem wir unsere Vorstellungskraft nutzen und uns auf die Biografien anderer Menschen einlassen, können wir neue Horizonte entdecken, unsere geistigen Grenzen erweitern und uns mit der Vielfalt unserer Welt verbinden. Nicht zuletzt kann das Reisen im Kopf und auf dem Sofa eine Quelle der Inspiration und der Freude sein. Frohes Lesen und gute Reise!

Literatur:

  • Ägypten/Grossbritannien – Shady Lewis: «Auf dem Nullmeridian». 224 Seiten. 2023.
  • Kolumbien – Melba Escobar: «Die Mutter». 256 Seiten. 2023.
  • Japan – Riku Onda: «Fische, die in Sonnensprenkeln schwimmen». 256 Seiten. 2023.

© Lydia Zimmer. Aus: Kulturelemente 2024. Alle Bücher sind im Buchclub DIE WELT LESEN diskutiert worden.

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