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Die Allgemeine Lesegesellschaft (ALG) ist ein Ort der Lektüre und der Musse im Herzen der Stadt Basel. Als Treffpunkt für Interessierte aus der Bevölkerung soll sie den Zugang zur Literatur und zum zeitgenössischen Wissen erleichtern. Daneben bietet sie einen Raum für angeregte Gespräche bei einer Tasse Kaffee oder Tee. Gegründet im späten18. Jahrhundert, ist sie eines der wenigen unmittelbaren Zeugnisse der Aufklärung in dieser Stadt und eine geschichtsträchtige Institution. Andreas Lang, Leiter der Allgemeinen Lesegesellschaft, gibt uns Einblick in den Alltag der ALG und seinen persönlichen Bezug zur Literatur und zum Lesen.
Was ist das Tollste am Arbeitsalltag?
Die Allgemeine Lesegesellschaft ist geprägt von den Höhen und Tiefen der Jahrhunderte. Institutionell sind wir zwar «nur» etwa 230 Jahre alt, doch stammt unser Gebäude noch aus der Reformationszeit. Das Bewusstsein, die trockene, alte Bausubstanz unseres schönen Hauses mit einer «Seele» zu füllen – ja diese «Seele» zu sein –, motiviert mich täglich. Denn mich kennt man, wenn man der ALG beitritt, viele Mitglieder begrüsse ich mit Namen (und selbst dass ich so manchen wieder vergesse, wird mir gemeinhin verziehen). Meine persönliche Identifikation mit den alten Gemäuern ist stark. Freilich ist es wichtig, dass der «Geist», als der ich hier umherwandle, nicht allzu prägend wirkt. Denn das Haus hat schon andere Geister gekannt – und weitere wird es kennen. Sein Zeithorizont ist weiter als der meinige, und das ist gut so.
Wenn wir vom Zeithorizont sprechen: Was wünschst du dir für die Zukunft der ALG?
Was andernorts selbstverständlich ist – die Notwendigkeit, sich zu entwickeln, offen zu bleiben für das sich stetig ändernde Umfeld –, gilt für die Allgemeine Lesegesellschaft nicht ohne Vorbehalt. Unser Haus ist gerade deswegen attraktiv, weil es sich dem Druck des Zeitgeistes ein Stück weit widersetzt. Mit borniertem Festhalten an alten Zöpfen hat dies nichts zu tun, wohl aber mit der Wertschätzung dessen, was zeitlos ist. Und zeitlos ist auch unser Vergnügen an raschelndem Papier, knarrenden Holzböden und wohlsortierten Karteikärtchen… So wünsche ich mir, dass unsere Lesesäle und unsere Bibliothek auch in den kommenden Jahrhunderten jene wunderbare Atmosphäre ausstrahlen, die von unseren Mitgliedern so geschätzt wird.
Die Alg ist, wie du sagst, ein besonderer ort: Literarisch und geographisch gesehen. Wo und wann liest du persönlich am liebsten?
Erst einmal habe ich es bisher unternommen, eine Art «literarische Wanderung» zu unternehmen. Auf dieser Reise durch Ostengland – die vor geschätzten fünfzehn Jahren stattfand – folgte ich den Spuren W.G. Sebalds mit dessen Ringen des Saturn im Gepäck. Leider wollte sich das Gruseln, das ich mir erhofft hatte, nicht recht einstellen, als ich endlich auf jener Felsenklippe stand, vor der eine einst blühende Stadt – mitsamt dem Vorfeld der Klippe – bis zum allerletzten Mauerrest der Erosion zum Opfer gefallen ist. Eine etwas ernüchternde Erfahrung, aber auch eine ermutigende: Gute Literatur bedarf keiner realen Kulisse, um zu wirken. Unsere Phantasie genügt, gleichgültig, ob man sich auf einer Wiese, am Rheinufer oder in unserer schönen Bibliothek auf dem Münsterplatz befindet – oder auch an einem Tischchen, in regem Austausch mit Gleichgesinnten, über einem Gedicht oder einer Kurzgeschichte brütend. So wie ich es seit vielen Jahren regelmässig tue.
Wann begeistert dich ein Buch?
Für mich sind nicht allein inhaltliche, sondern auch formale Aspekte massgebend. Der Schreibstil einer Autorin oder eines Autors sollte so unverwechselbar sein, wie es in der Musik der Kompositionsstil eines Bruckner oder Sibelius oder Honegger ist. Die Autorschaft zu erraten, ohne den Text zu kennen, ist bei Otto F. Walter möglich, ebenso bei Max Frisch oder Thomas Bernhard oder W.G. Sebald. Dieser letztere Autor zählt zu meinen Favoriten. Was erstaunlich ist – zumal etwa sein Roman Austerlitz weder durch eine spannende Handlung noch durch Humor noch durch irgendein Pathos besticht. Ein ungeheuer düsteres Buch. Auf unzählige Arten lässt es den Abgrund erahnen, der allem Geschilderten zugrunde liegt – symbolisch oder mittels eines raffinierten Systems aus Leitmotiven. Ebenso düster, wenn auch ins Komische, ja Groteske gewendet sind manche Texte Hermann Burgers. Auch dessen Roman Schilten zählt zu meinen literarischen Favoriten.
Welches Buch hat dich geprägt?
Eine der vielen Antworten auf die Frage, warum es sich zu lesen lohnt, lautet: weil man sich von manchen Büchern im Innersten verstanden fühlt. Erstmals habe ich diese Erfahrung mit den Romanen Otto F. Walters gemacht. Als Teenager haben sie mich insofern geprägt, als sie mir eine durchaus subversive Komponente, die irgendwo verschämt in mir schlummerte, ins Bewusstsein riefen. Ich sympathisierte mit manchen Figuren, auch wenn sie im Gegensatz standen zu meiner mitunter etwas braven Kindheit. Ein Roman wie Zeit des Fasans förderte so meine Entwicklung zur Eigenständigkeit – freilich dann auch durch innere Abgrenzung.
Lieber Andreas, wir danken Dir für das spannende und persönliche Interview!
Zur Person:
Andreas Lang, geboren und aufgewachsen in Basel, studierte Geschichte und Germanistik in seiner Heimatstadt. Nach dem Lizentiat wirkte er rund zehn Jahre als Lehrer am Gymnasium Bäumlihof, bevor er zur Allgemeinen Lesegesellschaft Basel wechselte. Seit 2009 arbeitet er dort als Verwalter. Andreas Lang ist passionierter Leser und Musikhörer. In seiner Freizeit betätigt er sich daneben als Alpinwanderer und Gleitschirmpilot. Er ist verheiratet und Vater zweier Töchter.
Die Interviewfragen stellten Lydia Zimmer und Nina Richard.
© Titelbild: Felix Heiber. Photos Beitrag: Andreas Lang. Alle Rechte vorbehalten.